Sonntag, 26. Mai 2013

Mythologie des Wildapfels

Der Wanderer, der Trippstadt im Wonnemonat Mai besucht, wird in den Wäldern und Wiesen die unseren Ort umschließen ein wunderschönes Blütenmeer vorfinden.
Buschwindröschenblüte

Wildapfelblüte
Fotos Copyrights Ute Knieriemen-Wagner
In den Laubwäldern stehen die Buschwindröschen in voller Blüte. Die Wiesen strotzen vor geballtem Grün. Der „Maibusch“, der dottergelbe Löwenzahn, bestimmt hier den Blütenaspekt. Vogelkirsche und Schlehe streuen ihren Blütenduft in die Landschaft und auch der Wildapfel, um den es in diesem Artikel geht, blüht nun in unseren Wäldern! Der Wildapfel ist übrigens Baum des Jahres 2013.
Die Mythologie und das Märchen sind dem Alltag meistens ein Rätsel. Dies braucht uns nicht zu wundern, denn sie sind im wahrsten Sinne des Wortes auf "Wundern" aufgebaut. Wie im Märchen von Dornröschen oder Schneewittchen. In der Erzählung von Heinrich Zimmer, "Der König mit dem Leichnam", lässt uns der große Indologe einen Einblick gewähren in das Geheimnis des Märchens und somit der Mythologie. Es heißt darin: "Die Prinzessin im gläsernen Sarg ist ein Rätsel, denn sie ist nicht tot, trotz ihrer Starre im Sarge. Es gilt zu finden, was sie wieder ins Leben bringt. In rätselhaften Schlaf versenkt liegt Dornröschens Schloss, wie konnte es Schlummer befallen? Wie spann sich die undurchdringliche Hecke des Geheimnisses um seinen totenstillen Traum, und wer löst den rätselhaften Bann? Der Sinn dieses Rätsels ist die Frage: was ist das Wirkliche, dass sich im dargebotenen Schein verbirgt? Was ist in Wahrheit mit der Prinzessin so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und Haaren schwarz wie Ebenholz, ein Abbild des Lebens, das unverweslich und so lange schon im Sarge ruht, von den Zwergen betrauert, - ist sie wirklich auf ewig tot? Oder welches Wunder kann sie aus dem scheinbaren Tod, der sich mit dem Schein des Lebens schminkt, ins wirkliche Leben zurückbringen? Ist Dornröschens Schlummer die ganze Wirklichkeit, steckt nicht in ihm ein Anderes, Geheimes, wie ein Kern verborgen in Fruchtfleisch und Schale steckt?"
Wie zum Beispiel in einem Apfel? Ob Schneewittchen oder Dornröschen, wenn der Mythos uns in seiner Gewalt hat, müssen wir uns so etwas wie eine Strukturanalyse schaffen, damit wir uns nicht in seinem Labyrinth verirren.
Es ist immer der Baum, der rettende Helfer, der stark verwurzelt am Ein- und Ausgang des Labyrinths steht, der unser Suchen bewacht, dass wir uns nicht verirren und irgendwann dem schrecklichen Minotaurus gegenüberstehen. Wer sich die Mühe macht in die Mythologie der Bäume einzudringen, wird mit zwei großen Symbolen konfrontiert die uns begleiten, seit wir als Menschen auf diesem Planeten umherwandern. Das eine ist die große Göttin, Dornrösschen ist eine Form von ihr, das andere ist der kosmische Baum. Er repräsentiert die Transzendenz, beide gehören auf ewig zusammen. Der Mensch von heute kann es leider nicht mehr wahrnehmen. Nur Bruchstücke einer uralten Überlieferung sind es, die er manchmal findet. Es ist, als hält er einen verdorrten Ast in der Hand und kann den Stamm nicht finden zu dem dieser einst gehörte.
Nach dem Sieg der Kirche über das Heidentum in Europa, lebte die Verehrung alter Baumriesen zwar weiter, aber die alte Religion verschwand immer mehr aus dem Bewusstsein der Menschen. Die Verkünder des Evangeliums begannen eine mörderische Hetzjagd nach den Menschen, die das weibliche Prinzip der Natur verehrten. Der lebendige Baum durfte nicht mehr angebetet werden, dafür gab die Kirche als Ersatz den Menschen ein hölzernes Kreuz. Der großen Mutter durften keine Gaben mehr dargebracht werden und einige Kirchenväter erklärten den Menschen zur "Krone der Schöpfung". Dass dem Menschen diese "Krone" keineswegs passt, das wissen wir inzwischen nur zu gut. In der Hierarchie der Erdbewohner ist er das schwächste Glied von allen; nämlich jenes, das nach dem Motto "machet euch die Erde untertan" handelt und alles zerstört. Die uralten heiligen Haine, sind von den Landkarten Europas verschwunden. Dort wo einst geheimnisvolle Baumheiligtümer standen, befinden sich nun gigantische Müllkippen und Betonwüsten. Dennoch gibt es wieder Menschen die der uralten Stimme der Göttin lauschen, die insgeheim nie ganz verschwunden ist, sondern sich nur zurückgezogen hat. Menschen die wissen, dass das Salz dieser Erde in ihrem Blute wirkt, dass das Abbild des kosmischen Baumes in ihre Seele geätzt ist. Jenes uralte Wesen, das einst Besitz vom ganzen europäischen Raum ergriffen hatte – dem archaischsten aller Lebewesen, dem Baum des Lebens.

Auch unser heimischer Apfelbaum, vor allem sein Wildling der Holzapfel (Malus sylvestris), hat eine uralte Kulturgeschichte die tief in prähistorische Zeiten zurückreicht. Der älteste von Archäologen gefundene Apfel ist ca. 6000 Jahre alt. Man fand ihn in der Nähe von Heilbronn, wahrscheinlich haben schon jungsteinzeitliche Siedler damit begonnen, Wildäpfel zu kultivieren. Also in der "Hohen Zeit der Göttin", schließlich gehört der Apfelbaum zu ihren Attributen, wie die Eiche dem Zeus geweiht war. Man sprach den Apfel den Göttinnen der Liebe und Fruchtbarkeit zu. Diese "Apfelträgerinnen" waren bei den Babyloniern Ischtar, bei den Griechen Aphrodite und bei den Germanen war es Idun. Sie war die Gemahlin von Bragi, einem Sohn Odins, der ihm den Besitz der Dichtkunst übertragen hatte. Idun war eine Göttin aus dem Geschlecht der Asen. Die Götter kamen gerne zu Idun und Bragi, ließen sich von ihm Helden- und Liebeslieder vorsingen und aßen von den heiligen Äpfeln der Idun, durch deren Genuss den Göttern ihre Jugend erhalten blieb.

Als Loki einst von dem Riesen Thiassi geraubt worden war, verlangte dieser für Lokis Freilassung Idun mit ihren Äpfeln. Loki führte darauf Idun in einen Wald, wo sich Thiassi ihr in Gestalt eines Adlers bemächtigte und sie in seinen Palast nach Jötungheim brachte. Seitdem wurden die Götter grau und alt. Darum zwangen sie Loki die Geraubte zu befreien! Mit dem Falkengewand der Freya flog Loki nach Jötunheim und da er den Riesen nicht antraf, verwandelte er Idun in eine Nuss und flog mit ihr zu den Asen/Göttern zurück. Thiassi, als er das wahrnahm, verfolgte in der Gestalt eines Adlers den Falken. Die Asen warfen dem Adler brennende Holzspäne entgegen, so dass er bald nicht mehr fliegen konnte, abstürzte und getötet wurde. So kehrte mit Idun wieder die Jugend zu den Göttern zurück.
Diese Göttersage greift auf ein Märchen über, das wir wohl alle kennen: Schneewittchen. Dieses Märchen ist eine symbolische Verkleidung der alten Göttin. Hier versucht die eifersüchtige Stiefmutter (ein älterer Aspekt der Göttin), die junge Prinzessin zu ermorden. Man führt sie in einen Wald (tiefenpsychologisch - das Unbewusste), wo sie getötet werden soll. Doch der Jäger, der den Auftrag hat sie zu töten, bringt zum Beweis der Tat die Leber und die Lunge eines jungen Ebers mit. Der Eber ist ein Tier dem wir in den antiken Mysterien immer wieder begegnen. Die Stiefmutter, die bald erfährt dass ihr Mordauftrag nicht ausgeführt wurde, versucht nun selbst die Prinzessin zu töten. Zunächst mit einem Zwangsgürtel, dann mit einem vergifteten Kamm, schließlich mit einem vergifteten Apfel. Als sie Schneewittchen aufsucht, färbt sie ihr Gesicht dunkel, hiermit zeigt sie an, dass sie die Todesgöttin ist. Die sieben Zwerge legen Schneewittchen in einem tiefen Wald in einen gläsernen Sarg hinein. Aber sie wird von einem Prinzen gerettet. Den Glassarg kennen wir aus der keltischen Mythologie, dort symbolisiert er die "gläserne Burg". Die sieben Zwerge stehen für die sieben Himmelskörper. Kamm, Glas, Gürtel und Apfel sind die Requisiten der Göttin. Das Drama um Schneewittchen scheint also eine uralte Inszenierung zu sein, wahrscheinlich geht es hierbei auch um einen uralten Fruchtbarkeitskult. Wahrscheinlich wird die Prinzessin hier zum Einen mit dem Einschlafen der Natur im Winter identifiziert und nachdem sie den Apfel wieder ausgespuckt hat, mit dem Erwachen der Natur im Frühling gleichgesetzt. Zugleich ist sie auch ein Symbol für Jugend und Unsterblichkeit.

In der Sprache des Mythos reden nicht nur Personen zu uns, es reden die Götter mit uns. Es teilen sich uns nicht nur Nationen mit, sondern die Völker von Kontinenten sprechen über den Mythos mit uns. Nicht Jahrhunderte erzählen uns, sondern Jahrtausende, ja der Anfang selbst spricht zu uns.
Es gab immer wieder Menschen die behaupteten mit den "goldenen Äpfeln", seien Zitronen oder Orangen gemeint, doch diese Behauptung ist falsch. Die Griechen lernten die Zitrusfrüchte frühestens im 4.Jahrhundert in Form von Zitronat kennen, die Zitrone erst viele Jahrhunderte später, die Orange tauchte erst um das Jahr 1000. in Europa auf, die goldenen Äpfel sind also eine mythische Frucht.

Die Göttin der Unterwelt Persephone, die auch eine Vegetationsgöttin ist, war eine Tochter des Zeus und der Demeter. Einst spielte sie mit Freundinnen auf einer Wiese, Blumen sammelnd entfernte sie sich von ihren Gespielinnen; dies sah Pluto (Hades) der Gott der Unterwelt, er raubte sie und erhob sie zur Beherrscherin der Unterwelt. Ihre Mutter Demeter suchte sie mit einer an den Flammen des Ätna entzündeten Fackel auf der ganzen Erde, doch erst Helios offenbarte ihr deren Schicksal. Zeus versprach der Demeter, dass Persephone wieder zu ihr zurückkehren würde, wenn sie im Schattenreich noch keine Nahrung zu sich genommen hätte. Mit Pluto hatte sie aber bereits einen Granatapfel geteilt, deswegen durfte sie nur zwei Drittel des Jahres in der Oberwelt verbringen. Weil Persephone den Granatapfel gegessen hatte, "die mythische Frucht", die ihr Pluto reichte, war sie sein Weib und musste bei ihm bleiben. Wenn ein Apfel halbiert wird, zeigt jede Hälfte in ihrer Mitte einen Stern, ein Pentagramm, das Symbol der Unsterblichkeit, das die fünf Stationen der Göttin repräsentiert, von der Geburt bis zum Tod und wieder zurück zur Geburt. Die mythischen Äpfel sind also die Frucht der Unsterblichkeit, jene die davon kosten, werden eins mit ihrem Selbst und erheben sich so zu den Göttern.

Hippomenes besiegte einst die schöne Atalanta im Wettlauf mit Hilfe dreier goldener Äpfel, die ihm Aphrodite gab. Beim Lauf ließ er diese in Abständen fallen, und Atalanta bückte sich jeweils, um die goldenen unwiderstehlichen Zauberfrüchte aufzuheben. So gewann er den Lauf und das Mädchen verlor ihre Jungfräulichkeit, hätte Hippomenes das Rennen verloren, hätte dies seinen Tod bedeutet. Hippomenes vergaß allerdings, sich bei der zänkischen Aphrodite zu bedanken. Als er nun die Besiegte im Heiligtum der Kybele umarmte, verwandelte Aphrodite beide in Löwen, die nun den Wagen der Göttin ziehen. Hera, die Gattin des Zeus, bekam als Hochzeitsgeschenk, von Gaia, der Mutter Erde, einen Apfelbaum geschenkt, den die Erdmutter aus ihrem Schoß hervorsprießen ließ. Dieser Baum mit den Unsterblichkeit verleihenden Früchten befand sich im äußersten Westen, im Land des Sonnenuntergangs, und wurde von den Hesperiden, den Töchtern des Atlas und der Nyx bewacht. Drei dieser Äpfel zu holen war die elfte Aufgabe des Herakles. Nyx, die Mutter der Hesperiden, war keine andere als die Personifikation der Nacht. Eine mächtige Göttin die Menschen und Götter durch den Schlaf bezwingt. Ihre Töchter Aigle, Arethusa, Erytheia und Hesperia, waren wunderschöne Nymphen, die oft mit klangvoller Stimme sangen. Hera wusste, dass diese ihre goldenen Äpfel plünderten. Sie befahl dem "nie schlafenden" Ladon, ein schlangenähnliches hundertköpfiges Ungeheuer, seinen Leib in Ringen um den Baum zu winden und jedem den Zugang zu verwehren.
Alkmene, die Mutter von Herakles, war eine Sterbliche und die Gattin des Amphitryon. In dessen Gestalt hatte sich Zeus Alkmene genähert und mit ihr Herakles gezeugt. Hera, die Gemahlin des Zeus, verfolgte Herakles aus Eifersucht seit seiner Geburt. Alkmene hatte Herakles nach der Geburt ausgesetzt, aus Angst vor Hera’s Rache. Athene fand das Kind und brachte es zu Hera, diese erkannte es nicht und säugte Herakles aus Mitleid. Der Säugling biss dabei die Götten Hera in die Brust und sie stieß ihn von sich. Da er mit der göttlichen Milch gesäugt wurde hatte er von nun an übernatürliche Kräfte. Athene brachte das Kind zu seiner Mutter zurück und er wuchs bei seinen Eltern auf.
Der Held, der die Aufgabe hatte, die goldenen Äpfel der Hesperiden zu Eurystheus, seinem Auftraggeber zu bringen wusste nur, dass dieses sagenhafte Land im Westen lag. Herakles war sich im Unklaren, welchen Weg er einschlagen sollte und ging zunächst nach Norden. Er überwältigte den Meeresgott Nereus, fesselte ihn und zwang ihn ihm den Weg zu den Hesperiden zu verraten. Dieser gab ihm noch den Rat, die Äpfel nicht selbst zu pflücken, sondern hierfür Atlas, den Träger des Himmelsgewölbes zu benutzen. Durch List gelangte Herakles an die goldenen Äpfel und löste seine Aufgaben. Als Herakles die Äpfel Eurystheus überreichte, gab dieser sie ihm zurück. Er schenkte sie hierauf Athene, die dafür Sorge trug, dass Heras Eigentum wieder in die Hesperiden zurückkam. Da Herakles für kurze Zeit im Besitz der mythischen Frucht war, war er zu einem Unsterblichen geworden und konnte nun die nächste Aufgabe, den Abstieg in den Hades angehen. Denn nur Unsterbliche konnten in den Hades eindringen und von dort auch wieder zurückkehren. So symbolisiert der Apfelbaum der Hesperiden auch gleichzeitig den kosmischen Baum. Das Herakles gerade Athene die Äpfel zur Aufbewahrung gab, war wohl eine List von ihm, denn Athene war auch die Göttin der Weisheit und ihr Symbol war unter anderen auch die Schlange. Die "Schenkung" der Äpfel war so als Wiedergutmachung gedacht, weil Herakles das Schlangenungeheuer Ladon erschlagen hatte.

Was ist er nicht alles der Apfel! Evas Lockmittel, der Preis der Paris, der Anfang des trojanischen Krieges, Wilhelm Tells Zielscheibe, Newtons Erleuchtung, Sinnbild der Insel Avalon, kurzum der Apfelbaum kann uns vieles erzählen und lehren.
hukwa